So revolutionär wie die Erfindung des Internets, schwärmen die einen. Es wird unsere Gesellschaft und Wirtschaft verändern, vermuten die anderen. Die Unternehmen Deutschlands sind sich einig: Jede siebte Firma (15 Prozent) setzt große Stücke auf Blockchain. Bei den Großunternehmen mit 500 oder mehr Mitarbeitern stimmt gar jedes Dritte (36 Prozent) dieser Aussage zu. So lautet das eindrucksvolle Ergebnis einer repräsentativen Umfrage unter 1.004 Unternehmen ab 50 Mitarbeitern im Auftrag des Digitalverbands „Bitkom“. Diese wurde im Rahmen der Studie „Blockchain in Deutschland – Einsatz, Potenziale, Herausforderungen“ durchgeführt, die am 11. April 2019 veröffentlicht wurde.
Größter Hoffnungsträger ist dabei der Einsatz von dezentralen Handelsplattformen oder Finanztransaktionssystemen, meinen 70 Prozent aller Befragten. Das verwundert wenig, schließlich wurde Blockchain lange mit der Kryptowährung Bitcoin gleichgesetzt, die 2008/2009 vom Pseudonym „Satoshi Nakamoto“ entwickelt und der Welt vorgestellt wurde. Mittlerweile hat sich Blockchain aber als Algorithmus hinter Bitcoin und damit als technologischer Ansatz von diesen Finanztransaktionen emanzipiert. Welche positiven Auswirkungen dieser auf Geschäftsmodelle von Unternehmen oder Prozesse in der öffentlichen Verwaltung haben kann, zeigen weltweit nicht nur verschiedene Pilotprojekte – in der dezentralen Organisation des Stromhandels, im Versicherungsumfeld bei Reiserücktrittsversicherungen oder bei Kundenloyalitätsprogrammen. Auch deutsche Unternehmen erkennen laut Bitkom-Studie das große Potenzial: Für rund zwei Drittel (63 Prozent) liegt dieses darin, Aktivitäten aller Partner einer Wertschöpfungskette nachvollziehbar zu gestalten und dadurch zum Beispiel festzustellen, ob man wirklich ein Original-Ersatzteil bestellt hat oder ob das Fleisch im Supermarkt tatsächlich vom Bio-Bauernhof kommt. Rund jedes zweite Unternehmen geht außerdem davon aus, dass Blockchain die sichere und transparente Übertragung von Nachweisen über Eigentumsrechte ermöglicht. So ließe sich etwa ein Kaufvertrag über eine Immobilie manipulationssicher speichern. Ein Notar zur Besiegelung des Vertrags wäre dann nicht mehr erforderlich.
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Tausche Vertrauen gegen Technik
Er ist nicht der Einzige, der durch Blockchain-Anwendungen überflüssig werden könnte. Auch andere zentrale Instanzen (Anm.: sogenannte Intermediäre) wie Banken, die unser Geld verwalten oder der Staat, der Dokumente beglaubigt, könnten der Vergangenheit angehören. „Die größten Chancen der Blockchain-Technologie könnten darin gesehen werden, bestehende Geschäftsprozesse und Verfahrensprozesse so zu gestalten, dass Intermediäre, wie sie im Moment erforderlich sind, vielleicht entbehrlich werden“, heißt es in der Bitkom-Studie, „dass menschliche Ressource wieder für andere Aufgaben verfügbar gemacht werden kann und Pflichtprozesse weiter automatisiert werden können.“ Das ist zumindest die Vision von Blockchain. Statt einzelner Mittelsmännern, -frauen sowie -organisationen, denen alle Marktteilnehmer ihre Informationen anvertrauen müssen, übernehmen die Teilnehmer eines verteilten Rechnernetzwerks die Verwaltung und Speicherung digitaler Datensätze, Ereignisse und Transaktionen. Letztere werden in einzelnen Blöcken zusammengefasst und über kryptografische Verfahren (digitale Signaturen) untrennbar miteinander verkettet. Neue Transaktionen werden in regelmäßigen Abständen zur Blockchain hinzugefügt. Das alles läuft für jeden Teilnehmer transparent ab, was eine nachträgliche Fälschung der Daten, Transaktionen oder Transaktionspartner erschwert.
Neben diesen klassischen Blockchain-Technologien existieren diverse Erweiterungen und Anwendungen, die die Infrastruktur nutzen. Solch dezentrale Anwendungen, die auf einer Blockchain aufbauen, heißen im Fachjargon „dApps“ (Decentralized Applications). Sie ermöglichen als Browser oder Wallet die Interaktion mit einer Blockchain und stellen Anwendungen wie Handelsplattformen, soziale Netzwerke oder Identitätsmanagement zur Verfügung. Bitcoin war nichts anderes. Eine weitere dezentrale Anwendung hat mit der Einführung der Ethereum-Blockchain Einzug gehalten: Smart Contracts sind Computerprogramme, die ebenfalls in der Blockchain gespeichert und etwa die automatische Ausführung von Wenn-Dann-Beziehungen ermöglichen. So können Bedingungen für eine Transaktion aufgestellt werden, die bei Erfüllung automatisch durchgeführt werden und dabei helfen, Transaktionskosten zu reduzieren. Dass es sich dabei nicht um reine Theorie handelt, bestätigen die deutschen Unternehmen, die Blockchain bereits im Einsatz haben, einen solchen planen oder zumindest diskutieren. Zwei Drittel (65 Prozent) betonen, dass sie dadurch Transaktionskosten minimieren können. 87 Prozent merken eine Effizienzsteigerung dank Blockchain-Technologie.
Vorreiterunternehmen gefragt
Wirtschaftliche Vorteile, Transparenz und hohe Fälschungsresistenz – angesichts dieser Vorteile des Blockchain-Ansatzes mag es überraschen, dass nur 17 Prozent aller deutschen Unternehmen Blockchain bisher im Einsatz haben. Neun von zehn Betrieben (86 Prozent) hingegen haben noch nicht einmal über die Nutzung nachgedacht, so das Ergebnis der Bitkom-Studie. Die Gründe für dieses Zögern sind vielfältig. 88 Prozent kennen keinen praktischen Anwendungsfall; ebenso viele beklagen fehlende Fachkräfte. Auch die rechtliche Unsicherheit sowie mangelnde Standardisierung nennen 72 beziehungsweise 70 Prozent der Unternehmen als Grund für den Verzicht. Anforderungen an den Datenschutz und IT-Sicherheit sowie nicht-ausgereifte Technologie und hohe Investitionskosten sind weitere Hemmnisse.
Chance für Deutschland
Das Zögern deutscher Konzerne bezüglich der Blockchain-Technologie bedeutet jedoch nicht, dass Stillstand in Deutschland herrscht oder der Zug abgefahren ist. Ganz im Gegenteil: Fast 50% der deutschen Blockchain-Startups sind laut einer Studie der „Expertenkommission Forschung und Innovation“ (EFI) in Berlin beheimatet. „Mit dieser Konzentration an Entwicklungstätigkeit ist Deutschland und vor allem Berlin nach Einschätzung von Fachleuten ein Standort mit internationaler Bedeutung für Blockchain-Technologien“, heißt es im „Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands“ 2019. Denn neben der technologischen Infrastruktur weiß die Stadt an der Spree mit anderen Standort-Vorzügen zu punkten. „In Kombination mit den im Verhältnis zu anderen Technologiemetropolen günstigen Lebenshaltungskosten und breitem multikulturellen Angebot ziehen sie weitere Startups und Unternehmensinitiativen an, die das Ökosystem ergänzen“, heißt es in der neuesten Studie der Stiftung Neue Verantwortung. Bitkom-Präsident Achim Berg sieht die Entwicklung ebenfalls optimistisch und erklärt, dass „wenn wir jetzt die Weichen richtig stellen, kann Deutschland bei der Entwicklung von Blockchain-Lösungen ganz vorne dabei sein.“
Für eine positive Entwicklung seien einerseits Unternehmen gefordert, Blockchain bei der betrieblichen Weiterbildung in den Fokus zu rücken. Andererseits müsse die Technologie Teil von Ausbildungen und Studienangeboten werden. Außerdem seien massive Förderungen für (angewandte) Forschung notwendig, von denen auch Startups und Kleinunternehmen profitieren können. Gleichzeitig müssten die rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen durch die Bundespolitik überarbeitet und angepasst werden. Gerade bei der Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung, der Besteuerung von Kryptowährungen und beim Einsatz von Blockchain-Technologien in regulierten Märkten wie der Energiewirtschaft müsse Klarheit geschaffen werden, so die Expertenkommission in ihren Forderungen an die Bundespolitik.
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Berlin: „Wichtigste Stadt der Welt“
Machen und Ausprobieren muss man der Berliner Blockchain-Szene nicht zweimal sagen. Denn während sich der Rest Deutschlands noch zögerlich verhält, ist die deutsche Bundeshauptstadt bereits mittendrin im Geschehen. Und das nicht erst seit gestern. Schon 2013 würdigte der „Guardian“ die deutsche Bundeshauptstadt erstmals als „Bitcoin Capital of Europe“. Der Name gebührt ihr auch heute noch: Ob zum Mieten einer Wohnung, zur Urlaubsbuchung oder in Lokalen wie der „Leuchtstoff Kaffeebar“ oder dem „Room 77“– die Kryptowährung kann es in Sachen Beliebtheit fast schon mit „echtem Geld“ aufnehmen. Seit 2016 akzeptiert sogar die angesehene European School of Management and Technology (ESMT) Bitcoin als Bezahlsystem.
Doch das Blockchain-Ökosystem der Stadt geht weit über Kryptowährung hinaus – Meetups wie das Blockchain Meetup Berlin und Konferenzen wie die Crypto Conference liefern die besten Beweise für die bunte Szene. Internationale Großkonzerne wie IBM, Amazon, SAP oder Microsoft, die auch in Berlin Unternehmenssitze haben, bieten Blockchain-Lösungen als Software-as-a-Service an. Ebenso haben sich in Berlin der Krypto-Pionier „Ethereum Foundation“, die „Energy Web Foundation“, die eine offene Blockchain-Technologie für Energiemärkte erarbeitet, oder die „Web3 Stiftung“, die sich mit der Förderung eines dezentralen Internets beschäftigt, angesiedelt. Für deren Sprecherin, Ashley Tyson, ist Berlin „schon heute die wichtigste Stadt der Welt für die Blockchain-Entwicklung.“ Hier finde sich immerhin die größte Konzentration an Core-Developern überhaupt. Warum das so ist, kann sich Bruce Pon, Gründer der Blockchain-Datenbank „Bigchain DB“, leicht erklären: „Berlin weist ein Maß an Freiheit, Experimentierfreudigkeit sowie einen unfassbar spannenden Mix aus Hacker-Kultur, Musik, Kunst und Regierungsinstitutionen auf, die die Stadt für die Blockchain-Szene zu einem weitaus besser geeigneten Standort machen, als es Zug in der Schweiz oder Singapur je sein können“, verrät der Erfinder des „Ocean Protocol“, das den Datenaustausch zwischen KIs ermöglichen soll, gegenüber dem Branchenmagazin T3N.
Aktive Startup-Szene
Die Zahlen scheinen ihm recht zu geben: Laut der Branchenplattform chain.de haben 88 der 194 deutschen Blockchain-Startups ihren Sitz in Berlin. Die lokale Blockchain-Community BerChain spricht sogar von „über 100 Blockchain-Startups“ und schwärmt vom „aktivsten und lebendigsten Ökosystem der ganzen Welt.“ Nicht zu vergessen eines der Vielfältigsten: Mit „Parity“ lassen sich Verträge im Internet abwickeln und überprüfen. „Bitwala“ wiederum bezeichnet sich als „Bankkonto mit Zugang zur Krypto-Welt“ und bietet Geldüberweisungen per Blockchain. Und „Jolocom“ möchte seinen Kunden dabei helfen, Informationen über sich im Internet zu sammeln und zu verbreiten. Bei dieser sich ständig wandelnden und wachsenden Vielfalt kann man schon einmal den Überblick verlieren. Damit genau das nicht passiert, tritt BerChain auf den Plan: Die Initiative bildet nicht nur regelmäßig das Blockchain-Ökosystemab, über eine Online-Plattform sowie Events vernetzt sie die heterogene Berliner Blockchain Community. Auch Interessierten, die ein Startup gründen möchten, steht BerChain mit Rat und Tat zur Seite.
Kommen wir zum Vergleich zwischen Blockchain und Internet vom Anfang zurück. Laut Bitkom-Studie verorteten sechs der 14 befragten Blockchain-Experten die Blockchain-Technologie im Jahr 2018 in einem Entwicklungsstadium, in dem sich das Internet in den 1990er Jahren befunden hat. Zu einer Zeit also, in der Bill Gates 1993 die vielzitierte Fehleinschätzung äußerte: „Das Internet ist nur ein Hype“. Mag sich der Rest Deutschlands vielleicht noch in den 90ern aufhalten, Berlin ist längst im Jahr 2019 angekommen!
In der Themenreihe “Deep Dive” gibt Projekt Zukunft regelmäßig Einblick in aktuelle Technologien der Digital-, Medien- und Kreativwirtschaft und informiert über Akteure, Trends und Anwendungen aus Berlin.