Gemma Pörzgen ist Journalistin und Vorstandsmitglied von Reporter ohne Grenzen. Im Interview mit Projekt Zukunft erzählt sie, wie der Verein für freie Berichterstattung kämpft und wie das von der Wirtschaftsverwaltung geförderte Stipendienprogramm, auf das sich im vergangenen Jahr mehr als 500 Journalistinnen und Journalisten aus 80 Ländern beworben haben, einen Beitrag leistet.
Sie sind Mitbegründerin und Vorstandsmitglied von Reporter ohne Grenzen – was haben Sie in den letzten Jahren erreichen können?
Wir haben sehr viel erreicht. Wenn ich an die Anfänge der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen vor 25 Jahren zurückdenke, staune ich oft. Wir waren am Anfang nur einige wenige Kollegen, die den Verein sehr improvisiert und mit ehrenamtlichem Engagement auf den Weg gebracht haben. Heute sind wir eine schlagkräftige NGO mit einer professionellen Geschäftsstelle und rund 25 Mitarbeitern. Es ist uns gelungen, das wichtige Thema Pressefreiheit von einem Nischenthema zu einem Anliegen vieler Menschen zu machen und das Bewusstsein dafür zu stärken, dass Solidarität mit bedrohten Kollegen wichtig ist.
Und wo besteht noch Handlungsbedarf?
Leider sind wir über die Jahre keineswegs unverzichtbar geworden und es besteht sehr viel Handlungsbedarf, in vielen Ländern. Die Türkei zählt heute zu den Schwerpunkten unserer Arbeit. Dort sitzen mehr als hundert Kollegen und Kolleginnen im Gefängnis, teilweise wegen absurder Anschuldigungen. Selbst unserem langjährigen ROG-Korrespondenten in Istanbul, Erol Önderoglu, droht wegen angeblicher Terrorpropaganda eine lange Haftstrafe und es läuft ein Gerichtsverfahren gegen ihn. Die Bedrohungen von Journalisten und Medien, die wir aus vielen Teilen der Welt kennen und dokumentieren, rücken inzwischen immer stärker an uns heran. Auch die EU ist kein sicherer Ort für die freie Berichterstattung mehr, wie die beiden Journalisten-Morde in Malta und in der Slowakei drastisch gezeigt haben. Es sind außerdem viele Themen dazu gekommen, die uns in den Anfängen noch nicht beschäftigt haben, wie etwa das Eintreten für die Freiheit des Internets und der Kampf gegen Überwachung.
Ihre Rangliste der Pressefreiheit stellte im vergangenen Jahr viele europäische Staaten an den Pranger. Woher kommt dieser negative Trend?
In keiner anderen Weltregion hat sich die Lage der Pressefreiheit in den vergangenen Jahren so stark verschlechtert wie in Europa. Das bereitet uns große Sorge. Es sind vor allem rechtsnationalistische Politiker, die Journalisten und Medien gezielt diffamieren und deren Kampagnen dann in reale Gewalt umschlagen können. Diesen Politikern fehlt meist das grundsätzliche Verständnis dafür, dass eine freie Berichterstattung zu den Grundpfeilern der Demokratie gehört. Stattdessen offenbart sich in ihrer Hetze gegen Medien und Journalisten vor allem der Wunsch, diese für die eigenen Zwecke kontrollieren und instrumentalisieren zu wollen. Das kennen wir aus autoritären Regimen wie Russland, China oder der Türkei zur Genüge. Es muss uns erschrecken, dass auch Regierungspolitiker in EU-Staaten wie Ungarn, Tschechien oder jetzt sogar in Österreich solche Töne anschlagen.
Warum ist Pressefreiheit nach wie vor so wichtig?
Wir haben ein Motto, das lautet: Keine Freiheit ohne Pressefreiheit. Ich denke, das trifft es gut.
Berlin sieht sich als Standort für Exilmedien und Pressefreiheit in der internationalen Verantwortung – was ist hier noch zu tun?
Es ist gut und wichtig, dass sich Berlin als Zufluchtsort für Exilmedien und Exiljournalisten versteht. Ich erinnere mich noch daran, wie schwer es in unseren Anfangsjahren war, Kollegen in den Redaktionen dazu zu bewegen, auch mal den Artikel von Kollegen abzudrucken, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und arbeitslos in Deutschland saßen. Das hat sich zum Glück geändert. Exiljournalisten stoßen heute auf mehr Interesse und finden mehr Unterstützung in Berliner Redaktionen. Das heißt aber nicht, dass da nicht noch mehr passieren sollte. Kürzlich sprach ich mit einer afghanischen Kollegin, die seit 1979 in Deutschland lebt und fließend Deutsch spricht. Sie klagte darüber, dass sie immer nur über afghanische Themen berichten soll und darauf festgelegt wird. Ich würde mir wünschen, dass auch Kollegen und Kollegen mit Migrationshintergrund die ganze Bandbreite journalistischer Themen offen steht.
Auf der re:publica19 wird das Thema Pressefreiheit ebenfalls im Fokus stehen. Berlin bietet vielen Journalisten und Whistleblowern einen Zufluchtsort. Wie unterstützen Reporter ohne Grenzen diese Kollegen konkret?
Wir tun das auf vielfältige Weise. ROG hilft dabei, nach Deutschland zu kommen, wenn Kollegen bedroht werden und flüchten müssen. Wer in Berlin angekommen ist, wird bei Behördengängen unterstützt und wir versuchen Kontakte zu Berliner Journalisten und Medien herzustellen. Unser Nothilfereferat bleibt wichtiger Ansprechpartner für viele Fragen. Wir pflegen einen engen Kontakt zu Exilmedien in der Stadt, beispielsweise dem aserbaidschanischen Sender „Meydan TV“. Bei Konferenzen und Podiumsdiskussionen sind wir oft an der Vermittlung von Podiumsgästen beteiligt und unterstützen Exiljournalisten dabei, die deutsche Öffentlichkeit zu erreichen.
Sie bieten ein Stipendienprogramm an, dass ein Training in digitaler Sicherheit in Berlin ermöglicht. Können Sie das näher ausführen?
Wir freuen uns, dass die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe unser Stipendienprogramm fördert. ROG lädt Journalisten und Journalistinnen aus Kriegs- und Krisengebieten für vier Monate nach Berlin ein. In dieser Zeit bieten wir eine Auszeit und ein umfangreiches Weiterbildungsprogramm. Unser Training ist sehr individuell auf die spezifischen Bedürfnisse der Gäste abgestimmt und soll sie dazu befähigen, zurück in der Heimat andere Kollegen und Kolleginnen fortzubilden und ihr erworbenes Wissen weiter zu geben. Das Stipendienprogramm zur digitalen Sicherheit passt sehr gut in die erfolgreiche digitale Startup-Szene der Hauptstadt. Ziel der Fortbildung ist, praktisches Wissen darüber zu vermitteln, wie die Kollegen sich in ihrer journalistischen Arbeit besser gegen Überwachung oder Hackerangriffe schützen können. Die ersten Erfahrungen mit Journalisten und Journalistinnen, beispielsweise aus Brasilien, der Türkei und Syrien, sind sehr positiv. Der Bedarf nach solchen Schulungen ist groß und wir freuen uns, dass wir dank der hinzugekommenen Unterstützung durch das Unternehmen ProtonMail noch einen zusätzlichen Platz einrichten konnten.
Ist die Digitalisierung ein Segen oder ein Fluch für die Pressefreiheit?
Die Digitalisierung ist eine technologische Entwicklung, die natürlich Licht- und Schattenseiten aufweist. Uns geht es deshalb vor allem um einen qualifizierten, sachlichen und angemessenen Diskurs über digitale Fragen. Reporter ohne Grenzen ist zu diesem Thema schon seit vielen Jahren aktiv. Schon in den 1990er Jahren habe ich in Hamburg erste Veranstaltungen zum Thema Internetzensur in China organisiert. Wir haben sehr früh dafür gesorgt, dass in unserer Dokumentation von Fällen auch Blogger und Digitaljournalisten angemessen berücksichtigt werden. Heute sind wir dank unserer hohen Kompetenz in diesem Themenfeld mit der Netzgemeinde eng verbunden und haben viele Schnittmengen.
Zu guter Letzt: Könnten Sie bitte folgenden Satz vervollständigen: „Berlin ist…“
… die Geburtsstadt der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen und ein guter Ort für die Verteidigung der Pressefreiheit.