Digital Health Apps auf Rezept

Kategorie: Digitalwirtschaft

©️ Johannes Windolph

Eine Welt ohne Kopfschmerzen – für die neun Millionen Deutschen, die unter Migräne leiden, klingt das wie ein Traum. An dessen Verwirklichung arbeitet das Berliner Startup Newsenselab GmbH seit 2016. Das Team um den Physiker sowie Migräneforscher Dr. rer. Markus Dahlem setzt dabei auf eine digitale Lösung: Die Smartphone App „M-sense“. Mehr als 240.000 Migräne- und Kopfschmerz-Betroffene nutzen bereits das personalisierte Tagebuch, um die eigenen Kopfschmerzattacken, Symptome, aber auch mögliche Auslöser wie Wetterdaten, Schlaf oder Stress für die Anfälle zu notieren. Außerdem enthält die App einen Medikamenten-Tracker und schlägt wissenschaftlich fundierte, nicht-medikamentöse Therapiemethoden vor, damit sich die Betroffenen selbst helfen können. Zusätzlich motiviert der digitale Assistent Brainy, die passenden Übungen zu finden und am Ball zu bleiben. Ein Rundum-Konzept, das offenbar Wirkung zeigt: Bisherige Datenalanysen ergaben, dass Betroffene durch die regelmäßige Nutzung der App ihre Kopfschmerztage um 38 Prozent reduzieren konnten.

M-sense möchte aber nicht nur das Leben der Migräne-Leidenden verbessern. Damit Ärzt*innen die Kopfschmerzen schneller diagnostizieren und zielgerichtet therapieren können, liefert ein Arztreport Informationen zu Kopfschmerztagen, Symptomen und Medikamenten. „Wir wollen als wirksame und ernstzunehmende Medizin-App in der Regelversorgung von Ärzt*innen und Patient*innen eingesetzt werden“, betont Julian Gansen, Director Market Access & Operations von Newsenselab, „das ist unser Anspruch und war schon immer Kern unserer Kultur und Strategie.“ Im Dezember 2020 ist die Anti-Migräne-App diesem Anspruch einen großen Schritt nähergekommen: Seither kann M-sense den rund 73,36 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenkasse (GKV) kostenlos verschrieben werden. Damit ist die digitale Lösung aus Berlin die siebente App auf Rezept in der Bundesrepublik – oder vielmehr weltweit.

Weltneuheit: Apps auf Rezept

Deutschland ist nämlich das erste Land, in dem sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) vom Arzt verschrieben oder bei entsprechender Diagnose direkt von der GVK erstattet werden können. Eingeführt wurde die Möglichkeit mit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) in der Gesundheitsversorgung im Oktober 2020. „Für viele Bürgerinnen und Bürger ist die Nutzung von Health-Apps bereits Realität. Apps begleiten die Bürgerinnen und Bürger etwa bei der Erfassung ihrer Blutzuckerwerte, beim Monitoring der Vitalfunktionen oder in der Psychotherapie“, begründet Christian Klose, Unterabteilungsleiter „Telematik, gematik und e-Health“ beim Bundesministerium für Gesundheit die Entscheidung. „Mit der App auf Rezept schaffen wir Transparenz über gute, sichere und evidenzbasierte digitale Gesundheitsanwendungen und binden diese zugleich in den Behandlungsalltag der Versicherten ein.“ Apps sind somit als wirksamer Bestandteil der medizinischen Regelversorgung akzeptiert und Deutschland globaler Vorreiter.

Qualität vor Quantität

Vorausgesetzt, die App oder browserbasierte Anwendung ist bereits als Medizinprodukt mit niedrigem Risiko für den Anwender (CE) zertifiziert und verursacht keinen körperlichen Schaden. Zusätzlich dazu muss die digitale Anwendung Anforderungen hinsichtlich Sicherheit, Leistungsfähigkeit, Qualitätssicherung, Benutzerfreundlichkeit und positiver Versorgungseffekte erfüllen. Erst, wenn sie das Fast-Track des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte besteht, wird sie ins Verzeichnis erstattungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA-Verzeichnis) aufgenommen. „Die Zahlen des BfArM verdeutlichen das hohe Interesse innovativer Start-ups, eine App auf Rezept zu werden“, meint Christian Klose, „dabei ist für uns eines klar: Die Gewährleistung von Patientensicherheit, Datenschutz, Qualität und medizinischer Evidenz sind wichtiger, als Quantität.“

3 von 10: Apps auf Rezept in Berliner Händen

Zehn Apps konnten bisher durch ihre Qualität überzeugen – fast ein Drittel davon stammt aus Berlin. So wurde neben M-sense, „Selfapy“, das Online-Therapien für psychische Belastungen anbietet, und „Vivira“ für Menschen mit Rücken-, Knie- und Hüftschmerzen, ins DiGA-Verzeichnis aufgenommen. „Berlin ist attraktiv“, kommt diese Dominanz für Christian Klose vom Bundesgesundheitsministerium nicht überraschend, „deshalb finden hier in einem einzigartigen Ökosystem die richtigen Personen zusammen: innovative Gründer, kreative IT-Spezialisten sowie herausragende Forschungs- und Versorgungseinrichtungen.“ Dass die Hauptstadtregion in Sachen Life Sciences und industrieller Gesundheitswirtschaft national und international exzellent aufgestellt ist, belegen Zahlen des Cluster HealthCapital: Zum Stichtag 31. Dezember 2019 zählte es 34 Unternehmen der Pharmabranche, 255 aus der Biotechnologie und 332 aus Medizintechnik und Digital Health. Dazu kommen Acceleratoren und Inkubatoren wie der Bayer Grants4Apps Accelerator, der helios.hub der Helios-Kliniken-Gruppe oder der Healthcare Hub Berlin von Pfizer sowie eine Vielzahl an Investoren und Förderprogrammen. Für den Standort spricht zudem die enge Zusammenarbeit der Akteure. „In Berlin ist man einfach sehr nah an vielen Menschen dran, die Innovationen im Gesundheitswesen vorantreiben", bestätigt Julian Gansen. Selbst, wenn diese physische Nähe „in Zeiten von COVID und Home-Office etwas in den Hintergrund rückt“, der Austausch in Online-MeetUps, BarCamps, SeedCamps und Hackathons oder beim monatlichen Health-IT-Talk Berlin-Brandenburg ist ungebrochen. Unterstützt wird die Vernetzung vom Clustermanagement HealthCapital, über das auch Newsenselab, laut Gansen, „wertvolle Kontakte erhalten (hat), aus denen so manches Projekt entstanden ist.“

Vivira App © Vivira

Zukunftsregion digitale Gesundheit

Ob zu diesen Projekten die Zusammenarbeit mit der Charité – Universitätsmedizin zählt, hat Julian Gansen nicht verraten. Mit Letzterer kooperiert Newsenselab im Moment gleich zweifach. Einerseits untersuchen beide mit den Kopfschmerzzentren in Halle und Rostock beim Projekt SMARTGEM (Smartphone-gestützte Migränetherapie) die Effektivität des Therapiemoduls von M-sense. Ein weiteres Gemeinschaftsprojekt ist die vollständig online ablaufende EMMA (Effectiveness der M-sense Migräne App)-Studie. Dabei wird es, laut Julian Gansen, nicht bleiben: „Ich bin überzeugt, dass wir (…) bald weitere spannende Studien sehen werden.“

Ungeduldig erwartet wird zudem das Ergebnis der „Zukunftsregion digitale Gesundheit“ (ZDG). Bei der Initiative des Bundesgesundheitsministeriums sollen ausgewählte digitale Gesundheitsanwendungen – darunter M-sense – im Sommer 2021 vermehrt in der Praxis angewendet werden. Mit der lokalen Ärzt*innenschaft und Patient*innen soll dabei die Nutzung der DiGAs auf Rezept getestet werden, um das System optimal auf die zunehmende Digitalisierung der Gesundheitsversorgung vorzubereiten. Dass der Test in der Hauptstadtregion stattfindet, ist verständlich. Schließlich befinden sich nicht nur die Apps auf Rezept fest in Berliner Händen, Berlin-Brandenburg hat die „beste Voraussetzung für die Entwicklung und Erprobung der Versorgung für das 21. Jahrhundert“, bringt es Christian Klose auf den Punkt.

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