Deep Dive #16: Digitale Lösungen für Barrierefreiheit

Kategorie: Deep Dive

GRETA App

© Greta & Starks

Am Arbeitsplatz genauso wie im Stadtleben und bei Freizeitangeboten – die Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen ist eines der Schwerpunktthemen von Stadtplanern und Verwaltungen gleichermaßen. Berlin ist da keine Ausnahme. Eine der Grundvoraussetzungen, um den 627.662 Menschen mit Behinderung, die 2018 laut Berliner Ratgeber Inklusion für Menschen mit Behinderung in der Hauptstadt lebten, eine „gleichberechtigte Teilhabe am Leben (…) zu ermöglichen”, ist zum einen der Abbau von physischen Barrieren im öffentlichen und privaten Raum. Zum anderen ist es die Entwicklung von innovativen, digitalen Lösungen, die das Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen erleichtern.

Die barrierefreie Welt digital sichtbar machen

Für Menschen wie Raúl Krauthausen gilt dies genauso wie für 1,6 Millionen andere Deutsche, denn der Berliner Co-Gründer des Vereins Sozialhelden ist Rollstuhlfahrer. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass physische Barrieren täglich das Leben von Rollator-Nutzenden bis zu Familien mit Kinderwagen behindern. Aus dieser Not heraus entstand 2010 das Projekt wheelmap.org und die kostenlose Wheelmap-App: Eine Open-Street-Map, in der jeder barrierefrei zugängliche Orte finden, eintragen und über ein Ampelsystem bewerten kann. Mittlerweile sind über eine Million Cafés, Bibliotheken, Schwimmbäder und andere Orte in aller Welt erfasst. Täglich kommen über 300 neue Einträge hinzu. „Als Berliner kann ich jetzt herausfinden, wo ich bei einem Münchenaufenthalt meine Brezel essen kann, ohne draußen vor der Tür kehrt machen zu müssen”, bringt es Krauthausen in einer Pressemitteilung auf den Punkt. Außerdem soll die Wheelmap Barrierefreiheit im öffentlichen Raum fördern. Diese soll künftig beim Gebäudebau genauso verpflichtend sein wie Brandschutzmaßnahmen.

Assistive Technologien für digitalen Raum

Im digitalen Raum sind solche Standards bereits gesetzlich niedergeschrieben: Die internationale Richtlinie Web Content Accessibility Guidelines WCAG 3.0 verpflichtet beispielsweise öffentliche Stellen, dass auf Webseiten Befehle auch über die Tastatur eingegeben oder Schriftgrößen verstellt werden können. In Europa müssen öffentliche Stellen gemäß der Richtlinie EU 2016/2102 den barrierefreien Zugang und die Nutzbarkeit ihrer Webauftritte, Apps und Verwaltungsverfahren sicherstellen. Zusätzlich sorgen technologische Entwicklungen für mehr digitale Barrierefreiheit. Die Touchbedienung auf Smartphones etwa reduziere die Hindernisse für „Zielgruppen, die mit externen Zeigegeräten Probleme haben”, weiß Carola Werning, pädagogische Mitarbeiterin der Berliner Stiftung barrierefrei kommunizieren!. „In Tablets und Smartphones sind von vornherein Bedienungshilfen integriert.” Andere assistive Technologien wie Sprach- und Augensteuerung oder automatische Untertitelung seien wiederum „Abfallprodukte" von Mainstreamtechnologien, die neben der allgemeinen Nutzerfreundlichkeit einen Mehrwert für Menschen mit Behinderung bieten. Hinzu kommen Bedienungshilfen und Apps, die den Alltag der Zielgruppen erleichtern. Einen Überblick dazu bietet die Datenbank barrierefrei kommunizieren!. Viermal jährlich organisiert die Berliner Stiftung außerdem kostenfreie On- und Offline-Erlebnisparcours, bei denen Technologien mit inklusivem Mehrwert vorgestellt und ausprobiert werden.


Pädagogische Mitarbeiterin Carola Werning © Stiftung barrierefrei kommunizieren

Ziel: „Superhearing”

Darunter befinden sich zahlreiche Entwicklungen aus der Hauptstadt. Das Unternehmen Audatic etwa entwickelte eine lernende Software-Lösung, die Hintergrundgeräusche herausfiltert und so die Lebensqualität von 466 Millionen Menschen, die lautWHO von Hörbeeinträchtigungen betroffen sind, verbessern soll. „Wir glauben, dass es jedem möglich sein soll, zu kontrollieren, wie sie oder er die Welt hören möchte”, ist auch Pauline O‘Callaghan, Gründerin und CEO des Startups Hearable Labs überzeugt. Oder besser gesagt: Was der Mensch hören möchte – und was nicht. Geräuschunterdrückende Geräte hätten bisher noch nicht geliefert, was versprochen wurde. Das liege an den technischen Herausforderungen: Hörgeräte müssten klein sein, eine lange Akkulaufzeit haben, drahtlos kommunizieren, gut klingen, in Echtzeit arbeiten – „es ist, als würde man ein ganzes Aufnahmestudio in Ihr Ohr stecken”, verrät die Irin gegenüber REALIZM. Seit 2008 arbeitet sie genau daran. Dass O’Callaghan wegen Berlins gutem Ruf als Startup-Zentrum in die Bundeshauptstadt gezogen ist, hat sich bezahlt gemacht. Neben Preisen wie dem Businessplan Wettbewerb Berlin-Brandenburg, konnte Hearable Labs ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt mit dem Fraunhofer IZM für sich gewinnen. Zusammen arbeiten sie an der Miniaturisierung der Elektronik für Hörgeräte. „Dadurch passen sie auch besser zu Frauen oder Personen mit kleineren Ohren (...). Wir lernen viele aufregende neue Technologien kennen, die auf Hörgeräte anwendbar sind“, ist die Gründerin ihrem Ziel des „Superhearings” einen Schritt näher gekommen. Auch Audatic wurde für seine Lösung mehrfach ausgezeichnet und gewann zum Beispiel den Digital Health Award Berlin.


Peter Udo Diehl, CEO & Elias Sprengel, CTO Audatic © Audatic

James Bond für alle

Nicht minder ambitioniert ist die Vision von Seneit Debese von Greta & Starks: „100 Prozent barrierefreies Kino in ganz Europa”. Seit 2013 arbeiten sie daran, blinden wie gehörlosen Zuschauern im Kino oder im eigenen Wohnzimmer grenzenloses Filmvergnügen zu ermöglichen. Dafür erstellen Produzenten, TV-Anstalten oder Kino-Filmverleiher eine Audiodeskription und einen Untertitel, die über die App GRETA kostenfrei zugänglich gemacht wird. Über 800 Filme und Serien stehen bereits zur Verfügung. Ein Highlight ist für 2021 nach mehrmaliger Verschiebung geplant: Mit Universal Pictures macht Greta & Starks den 25. James Bond – „Keine Zeit zu sterben“ – erstmals mit Audiodeskription und Untertiteln für alle im Kino zugänglich. Die beste Abdeckung hat die GRETA-App bei deutschen Filmen. Das liegt nicht zuletzt an der Novellierung des Filmfördergesetzes, die Filmproduktionen zu einer barrierefreien Fassung verpflichtet. „Trotzdem sind wir noch nicht bei 100 Prozent angekommen”, gibt Debese zu. „Bisher bieten wir unsere Lösung in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und Israel an.” Der Markteintritt in die größten europäischen Länder soll 2021 stattfinden. Dafür wird das Produkt weiterentwickelt: So ermöglicht ein neues Backend Verleihern und Produzenten, ihre Inhalte weltweit zu vertreiben, zu verwalten und ihre Rechte im Griff zu haben. „Außerdem haben wir ein Sicherheits-Audit nach MPAA-Standards abgeschlossen, um auch die Inhalte von internationalen Studios zu verwalten”, erklärt Debese. „Mit Hilfe der Technik bieten wir ab Herbst 2020 auch mehrsprachige Filmfassungen an.” Mit dem Hörfilm wurde zudem ein neues Produkt eingeführt, das den Filmton mit der Audiodeskription verbindet.

Mit EVE live dabei

Untertitel bei Filmen und Serien ist das eine. Doch was ist mit Videos im Internet? Was ist mit Streaming, Live-Events und Social Media? Mit EVE (steht für Eingabe, Verarbeitung, Eingabe) liefern die Berliner Tom Papadhimas und Thomas Niedermayr eine Antwort. EVE ist ein KI-basiertes Tool, das in Echtzeit gesprochene Sprache in Schrift übersetzt. Das ist nicht nur hilfreich für Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen, sondern z. B. auch für fremdsprachige Studierende. Damit die Software Live-Untertitel ausgibt, muss man nur eine Website aufrufen und Aufnahme drücken. Dann analysiert EVE das Gesprochene Wort für Wort, gleicht das Verstandene mit einer Datenbank aus Tonsignalen ab und sucht ähnliche Einträge. Die Übersetzung wird auf der Website angezeigt und kann gleichzeitig auf die Bühne projiziert werden. Außerdem protokolliert EVE im Wortlaut mit und ermöglicht die Suche nach Themen sowie Begriffen. Das Transkript steht ohne Verzögerung online zur Verfügung. Seit ihrem ersten Einsatz bei der Digitalkonferenz Microsoft Explained 2019 in Berlin hat sich EVE enorm weiterentwickelt, lernt der Dienst doch automatisch bei jeder Korrektur an einem Wort. „Wird beispielsweise fünfmal das Wort „Eistee“ in „Iot“ (Internet of things) korrigiert, merkt sich das EVE. Beim nächsten Mal verwendet sie das richtige Wort”, so die Entwickler. In Deutsch erkennt sie bereits durchschnittlich über 90 Prozent fehlerfrei, in Englisch sind es sogar 95 Prozent. „In den nächsten Wochen wird EVE viele neue Sprachen lernen (…), zudem ist eine Übersetzungsfunktion geplant”, hat das Team viel vor: „Langfristig ist auch an eine Unterstützung für die HoloLens zu denken. Stell dir vor, du bist in einem Fußballstadion, setzt die HoloLens auf und siehst darin die Live-Untertitel des Stadionsprechers.”

Fernüberwachung wichtiger denn je

Digitale Lösungen können auch bei der Betreuung von körperlich beeinträchtigten Personen unterstützen. Das Assistenzsystem „Grannyguard” von Pikkerton, das bei Stürzen Alarm schlägt, und die KI-basierte Sturzerkennungssoftware von Lindera sind ausgezeichnete Beispiele dafür. Mit Advosense konnte 2020 erneut ein eHealth-Startup den Deep Tech Award im Bereich Social Tech für sich gewinnen. Die selbsternannten „Revolutionärinnen der geriatrischen Pflege” Erin Webb and Martina Viduka entwickeln Inkontinenzprodukte für den Pflegebereich. Sensoren melden in Echtzeit, wenn einer Patientin oder einem Patienten die Kleidung gewechselt werden muss. In 70 Prozent aller deutschen Pflegeeinrichtungen fehle diese Information. Seit März 2020 sind die Wahl-Berlinerinnen Teil des Healthcare-Incubator Vision Health Pioneers. Mit dessen Unterstützung sollen die Produkte in Kürze in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen getestet werden. „Gleichzeitig betreten Ärzte seltener als zuvor Patientenzimmer, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu verhindern”, kennt Co-Gründerin Viduka die Aktualität des Problems, „daher ist die Fernüberwachung des Patientenzustands – und die Sicherstellung, dass sie nicht im Urin sitzen – wichtiger denn je.”

Digitale Technologien machen genau das. Sie haben das Potenzial, zu einer gleichberechtigten und barrierefreien Gesellschaft beizutragen. Seneit Debese von Greta & Starks spricht wohl im Sinn aller engagierten Unternehmer*innen, wenn sie meint: „Wir glauben, dass Inklusion keine Bürde, sondern eine enorme Bereicherung ist. Und zwar sowohl finanziell durch den Zugewinn neuer Zielgruppen, als auch gesellschaftlich durch den gegenseitigen Austausch, der eine Bereicherung für alle darstellt.“

In der Themenreihe “Deep Dive” gibt Projekt Zukunft regelmäßig Einblick in aktuelle Technologien der Digital-, Medien- und Kreativwirtschaft und informiert über Akteure, Trends und Anwendungen aus Berlin.

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